EuGH zu Privatisierungs- und Konzernverbot von Strom- und Gasnetzen in den Niederlanden
Der EuGH hat sich mit der Frage befasst, ob die niederländische Regelung für Strom- und Gasnetzbetreiber mit dem freien Kapitalverkehr vereinbar ist. Im Urteil vom 22.10.2013 - C‑105/12 stellt der EuGH fest, dass Beschränkungen des freien Kapitalverkehrs, die auf den Märkten für Elektrizität und Erdgas tätige Unternehmen betreffen, mit dem Europarecht im Einklang stehen können. Nach den Richtlinien 2003/54/EG - Elektrizitätsbinnenmarkt und 2003/55/EG - Erdgasbinnenmarkt soll im Bereich des Elektrizitäts- und Erdgasbinnenmarkts u.a. ein offener Markt, ein nichtdiskriminierenden Zugang zum Netz des Verteilernetzbetreibers sowie einen fairen Wettbewerb gelten. In den Erwägungsgründen der Richtlinien werde betont, dass die Verteilernetzbetreiber nach dem Willen des Unionsgesetzgebers über wirksame Entscheidungsbefugnisse in Bezug auf Vermögenswerte verfügen sollten, die zur Wartung, zum Betrieb und zur Entwicklung von Netzen erforderlich sind. Ferner sind der Aufbau und der Erhalt der erforderlichen Netzinfrastruktur wichtige Elemente, um eine stabile Elektrizitäts- und Gasversorgung sicherzustellen.
Nach neueren Rechtsvorschriften der Niederlande darf ein privater Investor keine Anteile an einem im niederländischen Hoheitsgebiet tätigen Elektrizitäts- oder Gasverteilernetzbetreiber oder Beteiligungen an dessen Kapital erwerben oder halten (»Privatisierungsverbot«).
Darüber hinaus sind Beteiligungen oder Beherrschungsverhältnisse zwischen Gesellschaften eines Konzerns, dem ein solcher Betreiber angehört, und Gesellschaften eines Konzerns, dem ein Unternehmen angehört, das im niederländischen Hoheitsgebiet Elektrizität oder Gas erzeugt, liefert oder vertreibt, verboten (»Konzernverbot«). Schließlich verbietet das nationale Recht auch, dass ein Verteilernetzbetreiber oder der Konzern, dem er angehört, Handlungen oder Tätigkeiten vornimmt, die dem Interesse des betreffenden Netzbetriebs zuwiderlaufen könnten.
Vor diesem Hintergrund riefen die Unternehmen Essent, Eneco und Delta die nationalen Gerichte an, weil sie die nationalen Rechtsvorschriften für mit dem freien Kapitalverkehr unvereinbar halten. Der letztinstanzliche Hoge Raad der Nederlanden hat beschlossen, sich in dieser Frage an den EuGH zu wenden.
Nach den Ausführungen des EuGH falle das Privatisierungsverbot zwar unter Art. 345 AEUV, der den Mitgliedstaaten erlaube, das Ziel zu verfolgen, für bestimmte Unternehmen eine Zuordnung des Eigentums in öffentliche Trägerschaft einzuführen oder aufrechtzuerhalten. Art. 345 AEUV führe jedoch nicht dazu, dass die in den Mitgliedstaaten bestehenden Eigentumsordnungen den Grundprinzipien des AEUV, u.a. denen der Nichtdiskriminierung, der Niederlassungsfreiheit und der Kapitalverkehrsfreiheit, entzogen seien. Das Privatisierungsverbot stelle folglich aufgrund seiner Wirkungen eine Beschränkung des freien Kapitalverkehrs dar, so der EuGH.
Allerdings könne das Interesse, das der Entscheidung des Gesetzgebers hinsichtlich der Zuordnung des Eigentums am Elektrizitäts- oder Gasverteilernetzbetreiber in öffentliche oder private Trägerschaft zugrunde liegt, als zwingender Grund des Allgemeininteresses berücksichtigt werden, um die Beschränkungen des freien Kapitalverkehrs zu rechtfertigen. Es sei Sache des vorlegenden Gerichts, eine entsprechende Prüfung vorzunehmen.
Das Konzernverbot und das Verbot von dem Interesse des Netzbetriebs zuwiderlaufenden Tätigkeiten stellen nach Auffassung des EuGH ebenfalls Beschränkungen des freien Kapitalverkehrs dar, die der Rechtfertigung bedürften. Insoweit sei festzustellen, dass die durch das vorlegende Gericht genannten Ziele, Quersubventionierungen zu unterbinden, Transparenz zu schaffen und Wettbewerbsverzerrungen zu verhindern, dahin gingen, einen unverfälschten Wettbewerb auf den Märkten für die Erzeugung, die Lieferung und den Vertrieb von Elektrizität und Gas zu gewährleisten sowie ausreichende Investitionen in die in die Elektrizitäts- und Gasverteilernetze zu garantieren. Nach Auffassung des EuGH verfolgen die nationalen Maßnahmen zwingende Ziele, die im Allgemeininteresse liegen. Denn ein unverfälschter Wettbewerb werde auch vom AEU-Vertrag verfolgt und soll letztlich den Verbraucher schützen. Ausreichende Investitionen in Verteilernetze zu garantieren, gewährleiste die Sicherheit der Energieversorgung. Auch wenn in den Richtlinien von 2003 weder das Konzernverbot noch das Verbot von dem Interesse des Netzbetriebs potenziell zuwiderlaufenden Tätigkeiten verlangt werde, werde mit der Einführung dieser Maßnahmen Ziele verfolgt, die mit den genannten Richtlinien angestrebt werden. Der EuGH weist jedoch darauf hin, dass die betreffenden Beschränkungen angemessen sein müssten und nicht über das zu deren Erreichung Erforderliche hinausgehen dürften, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.
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