Praxistipp: Übergang der Grundversorgung
von RA Michael Brändle1
Regionalversorger R und Stadtwerke S gründen eine gemeinsame Gesellschaft X. Regionalversorger R ist Grundversorger im Netzgebiet. Die Parteien stellen sich vor, dass die Grundversorgung „übergehen“ soll. Dazu sollen die Kunden „verkauft“ werden. Geht das? Und wie kann man das Gewollte ggf. gestalten?
Ausgehend von diesem Fall aus der Praxis und im Anschluss an die jüngste Veröffentlichung von Germer in dieser Zeitschrift2, welcher sich mit den Umsetzungsfragen beim Wechsel des Grundversorgers beschäftigt hatte, soll nachstehend erörtert werden, wie ein „Übergang“ der Grundversorgung bewusst und gewollt von zwei Energieversorgungsunternehmen herbeigeführt werden kann und welche Gestaltungsmöglichkeiten den beteiligten Energieversorgungsunternehmen hierbei zur Verfügung stehen.
1 Zum eingangs geschilderten Praxisfall ist die Antwort zunächst klar: Der Mensch im Allgemeinen und der Energiekunde im Besonderen sind keine Handelsware, die man kaufen oder verkaufen kann. Weniger polemisch formuliert: Der Kunde hat einen Vertragspartner (hier: Regionalversorger R) und der Vertragspartner kann nicht ohne Zustimmung des Kunden ausgetauscht werden.
Wer Grundversorger ist, ergibt sich aus dem EnWG: „Grundversorger ... ist jeweils das Energieversorgungsunternehmen, das die meisten Haushaltskunden in einem Netzgebiet der allgemeinen Versorgung beliefert." (§ 38 Abs. 2 Satz 1 EnWG). Die gemeinsame Gesellschaft X wird dann und nur dann Grundversorger werden, wenn sie die meisten Haushaltskunden beliefert.
Regionalversorger R wird die grundversorgten Kunden - solange er Grundversorger ist - gegen deren Willen auch nicht los. Die Ausnahmevorschrift des § 36 Abs. 1 Satz 2 EnWG („Die Pflicht zur Grundversorgung besteht nicht, wenn die Versorgung für das Energieversorgungsunternehmen aus wirtschaftlichen Gründen nicht zumutbar ist.“) liegt vielleicht ganz ausnahmsweise einmal für einen einzelnen Kunden vor, aber sicher nicht pauschal für alle nur weil sich Regionalversorger R und Stadtwerke S vorgestellt haben, die Kunden könnten auf die gemeinsame Gesellschaft X „übergehen“.
Der gemeinsamen Gesellschaft X bleibt nur übrig, dafür zu sorgen, dass die Kunden freiwillig vom Regionalversorger R zur gemeinsamen Gesellschaft X wechseln. Das kann man vielleicht befördern, indem z.B. Regionalversorger R den Kunden nahelegt, empfiehlt (oder wie auch immer man das formulieren will), zur gemeinsamen Gesellschaft X zu wechseln. Dafür mag die Marketingabteilung Argumente finden. Rechtlich ist aber klar: Es steht dem Kunden frei, zur gemeinsamen Gesellschaft X - oder zu sonst wem - zu wechseln. Kunde der gemeinsamen Gesellschaft X wird er dann und nur dann, wenn er mit der gemeinsamen Gesellschaft X einen Stromlieferungsvertrag schließt - und zwar einen Sondervertrag nach § 41 EnWG, denn Grundversorger bleibt Regionalversorger R so lange, wie er die meisten Kunden hat.
Erst wenn die gemeinsame Gesellschaft X die meisten Kunden - welche notwendigerweise alle Sonderkunden sind - hat, wird die gemeinsame Gesellschaft X zum Grundversorger und kann (und muss) dann auch Allgemeine Tarife anbieten.
2 Sobald die gemeinsame Gesellschaft X die meisten Kunden im Versorgungsgebiet hat, gilt Folgendes:
Es gibt zur gleichen Zeit immer nur einen Grundversorger. Ehemals grundversorgte Kunden werden durch den Wechsel des Grundversorgers zu Sonderkunden nach § 41 EnWG des „alten“ Grundversorgers3, wobei sich aber am Vertragsinhalt nichts ändert4, d.h. die Bestimmungen der StromGVV/GasGVV gelten als Vertragsinhalt weiter. Das Kündigungsverbot des § 20 Abs. 1 Satz 3 StromGVV/GasGVV ist dann nicht mehr einschlägig, da eine Pflicht zur Grundversorgung nach § 36 Abs. 1 Satz 2 EnWG ja gerade nicht mehr besteht. Die Verträge können also nach § 20 Abs. 1 Satz 1 StromGVV/GasGVV jederzeit mit einer Frist von einem Monat auf das Ende eines Kalendermonats gekündigt werden.
Die vom „neuen“ Grundversorger bis zum Wechsel des Grundversorgers bereits abgeschlossenen Sonderverträge werden durch den Wechsel des Grundversorgers ebenfalls nicht berührt. Den neuen Grundversorger trifft lediglich die Pflicht, Allgemeine Tarife anzubieten und jeden Haushaltskunden, der dies wünscht, zu diesen Tarifen zu beliefern.
In der logischen Sekunde des Wechsels gibt es keinen einzigen grundversorgten Kunden im Netzgebiet.
Was die Konzessionsabgabe betrifft, so hat das bei Strom im Hinblick auf § 2 Abs. 7 KAV keine praktischen Konsequenzen, beim Gas aber sehr wohl.5
3 Nun aber zur Frage, welche Gestaltungsmöglichkeiten den beteiligten Energieversorgungsunternehmen, welche einen „Übergang“ der Grundversorgung anstreben, zur Verfügung stehen: Dies lässt sich nur im Wege der Gesamtrechtsnachfolge lösen. Hierzu wäre erforderlich, dass Regionalversorger R auf Vertriebsseite einen Teilbetrieb für das ins Auge gefasste Netzgebiet nach den Regeln des Umwandlungsgesetzes abspaltet und diesen Teilbetrieb dann an die gemeinsame Gesellschaft verkauft oder in diese einbringt. Es würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen, die Einzelheiten dieses komplexen Prozesses darzustellen. Es soll hier nur verdeutlicht werden, dass es sehr wohl eine Möglichkeit gibt, „Kunden zu verkaufen“, aber eben nicht einzeln, sondern nur in der Weise, dass der Eigentümer eines - ggf. zuvor abgespaltenen - Betriebes ausgetauscht wird, denn nur dann gehen alle Vertragsverhältnisse in neue Hände.
4 Schließlich stellt sich noch die Frage, zu welchem Zeitpunkt die Grundversorgung übergeht. Hier gibt es keinen Unterschied zwischen der Fallgestaltung, dass die gemeinsame Gesellschaft die meisten Kunden akquiriert hat und der Fallgestaltung der Gesamtrechtsnachfolge.
§ 36 Abs. 2 Satz 1 EnWG ordnet - sehr eindeutig - an: „Grundversorger... ist ... (wer) die meisten Haushaltskunden in einem Netzgebiet der allgemeinen Versorgung beliefert“. Aus § 36 Abs. 2 Satz 2 EnWG ergibt sich zunächst nur, dass der Netzbetreiber verpflichtet ist, alle drei Jahre (und bei Einstellung des Geschäftsbetriebs des Grundversorgers, § 36 Abs. 2 Satz 5 EnWG) festzustellen, wer die meisten Kunden hat. Das schließt nach dem Wortlaut zunächst nicht aus, dass der Netzbetreiber dessen ungeachtet berechtigt ist, dies auch innerhalb der Drei-Jahres-Frist zu tun und die Feststellung, wer die meisten Kunden hat, auch innerhalb dieser drei Jahre zu treffen (und dies zu veröffentlichen und der Regulierungsbehörde mitzuteilen) wenn sich die zugrundeliegenden Tatsachen zwischenzeitlich geändert haben.
§ 36 Abs. 2 EnWG lässt zwei sinnvolle Auslegungsmöglichkeiten zu: Entweder soll stets dasjenige Energieversorgungsunternehmen Grundversorger sein, welches die meisten Kunden beliefert oder diese Zuordnung soll nur alle drei Jahre neu erfolgen, ohne dass es auf Veränderungen in der Zwischenzeit ankommt.
Für die erste Möglichkeit spricht § 36 Abs. 2 Satz 1 EnWG, dessen Anordnung unmissverständlich ist. Dagegen spricht in erster Linie § 36 Abs. 2 Satz 5 EnWG, welcher als Ausnahme von der turnusmäßigen Feststellung nur den Fall der Einstellung der Geschäftstätigkeit durch den aktuellen Grundversorger erwähnt. Über den hier diskutierten Fall des „Übergangs“ der Grundversorgung schweigt sich das Gesetz ebenso aus wie über den Fall des Teilnetzübergangs in dem es vorkommen kann, dass im verbleibenden wie im neuen Netzgebiet ein anderes Unternehmen jeweils die meisten Kunden versorgt6.
Um die Frage zu beantworten, sollte man sich vergegenwärtigen, wie die Feststellung der Grundversorgereigenschaft rechtlich einzuordnen ist. Germer7 ist zuzustimmen wenn er ausführt, diese Feststellung sei lediglich eine deklaratorische, habe keinen hoheitlichen Charakter und sei insbesondere kein Verwaltungsakt. Letzteres ergibt sich bereits daraus, dass der Netzbetreiber keine Behörde ist. Verwaltungsakte können nur von Behörden erlassen werden (§ 35 Satz 1 VwVfG).
Die Grundversorgereigenschaft ist eine gesetzlich angeordnete Einschränkung der Privatautonomie in der Weise, dass dem Grundversorger von Gesetzes wegen ein Kontrahierungszwang auferlegt wird, welcher alle anderen Energieversorgungsunternehmen, die in das Gebiet liefern, nicht trifft. Somit begegnet es erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken, es in die Hände eines privaten Unternehmens zu legen, diese Eigenschaft verbindlich festzulegen, was der Gesetzgeber wohl auch geahnt hat, gibt es doch nach § 36 Abs. 2 Satz 4 EnWG die Möglichkeit, „Einwände“ gegen das Ergebnis der Feststellungen zu erheben über welche dann die zuständige Landesbehörde entscheidet.
Stellt man diese Bedenken zurück, so wird man § 36 Abs. 2 EnWG verfassungskonform wenigstens dahingehend auslegen müssen, dass es auch bei den nicht ausdrücklich geregelten Fällen bei § 36 Abs. 2 Satz 1 EnWG bleibt, d.h. dass stets dasjenige Unternehmen Grundversorger ist, welches tatsächlich die meisten Kunden beliefert. § 36 Abs. 2 Satz 2 EnWG verbietet es bei dieser Auslegung also nicht, auch innerhalb des Drei-Jahres-Turnus entsprechende Feststellungen zu treffen, wenn sich die tatsächlichen Verhältnisse geändert haben. Nach Auffassung des Autors hat der Nicht-mehr-Grundversorger hierauf sogar einen Anspruch, da es ihm von Verfassungs wegen nicht länger zugemutet werden kann, mit jedermann kontrahieren zu müssen, obwohl die gesetzlichen Voraussetzungen hierfür, die ausschließlich in § 36 Abs. 2 Satz 1 EnWG zu finden sind, nicht mehr vorliegen.
Hinweis: Dieser Praxistipp richtet sich naturgemäß an eine unbestimmte Vielzahl von Energieversorgungsunternehmen. Er kann daher nicht eine anwaltliche Beratung im Einzelfall ersetzen. Möglicherweise trifft nicht jede Aussage auch auf Ihr Unternehmen zu.
1 Der Autor ist Rechtsanwalt in Freiburg und Partner von RÜHLING ANWÄLTE, Stuttgart und Freiburg und fachkundiger geprüfter Datenschutzbeauftragter nach dem "Ulmer Modell".
2 Versorgungswirtschaft 2011 (Heft 6), 151, vkw-online.eu DokNr. 11001113.
3 Anders Germer, aaO., S. 153, der eine Änderungskündigung für erforderlich hält.
4 So auch Germer aaO.
5 Näher dazu: Germer, aaO, S. 153f.
6 In diesem Fall sieht Germer, aaO., S. 153 eine Neufeststellung als „folgerichtig“ an.
7 Germer, aaO, S. 153 m.w.N.