Mit der Entfernungspauschale ist auch die zweite tägliche Fahrt eines Arbeitnehmers zur Arbeitsstätte abgegolten
- Urteil des Hessischen Finanzgerichts vom 6.2.2012 - 4 K 3301/09 -
Nichtzulassungsbeschwerde zum BFH eingelegt (VI B 43/12)
Die Begrenzung des Werbungskostenabzugs auf die Entfernungspauschale für eine arbeitstägliche Fahrt zwischen Wohnung und Arbeitsstätte ist verfassungsgemäß. .
Sachverhalt:
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Aufwendungen für eine zweite Fahrt zur Arbeitsstätte des Klägers an einem Arbeitstag als Werbungskosten zu berücksichtigen sind und ob die Regelung des § 9 Abs. 1 Nr. 4 des Einkommensteuergesetzes in der für die Streitjahre geltenden Fassung (EStG) i.V.m. § 9 Abs. 2 Satz 1 EStG mit dem Grundgesetz (GG), insbesondere Artikel 3 Abs. 1 GG, vereinbar ist.
Die Kläger sind unbeschränkt steuerpflichtig und werden zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Der Kläger erzielte in den Streitjahren u.a. Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit im Sinne des § 19 Abs. 1 Nr. 1 EStG aus seiner Tätigkeit als Chorsänger am Theater in A.
Der Kläger ist arbeitsvertraglich verpflichtet, sowohl an den Proben als auch an den Aufführungen an dem Theater in A teilzunehmen. Er fuhr deshalb im Jahr 2003 an 173 Tagen, im Jahr 2004 an 156 Tagen und im Jahre 2005 an 171 Tagen zweimal zu seiner Arbeitsstätte. Nach dem Sachvortrag des Klägers betrug die Unterbrechung der Arbeitszeit zwischen Proben und Aufführung jeweils mindestens 4 Stunden (wegen der Ermittlung der Tage, an denen er zweimal die Arbeitsstätte aufsuchen musste, wird auf den Schriftsatz des Klägers vom 17.05.2010 verwiesen).
Im Rahmen ihrer Steuererklärung für die Streitjahre machten die Kläger bei arbeitstäglich zweifachen Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte jeweils zweimal die Entfernungspauschale pro Kilometer als Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbstständiger Arbeit des Klägers geltend. Das Finanzamt folgte dem in seinen Einkommensteuerbescheiden vom 29.04.2005, 23.06.2006 und 12.02.2008 nicht und erkannte Aufwendungen in Höhe der Entfernungspauschale für lediglich eine Fahrt pro Arbeitstag an. Die gegen die Einkommensteuerbescheide erhobenen Einsprüche wies das Finanzamt durch Einspruchsentscheidungen vom 20.11.2009 (Aufgabe zur Post am 03.12.2009) als unbegründet zurück.
Zur Begründung ihrer dagegen erhobenen Klage bringen die Kläger vor, Steuerpflichtige, die aufgrund ihres Arbeitsvertrages verpflichtet seien, zweimal am Tag ihre regelmäßige Arbeitsstätte aufzusuchen, hätten einen höheren zwangsläufigen, pflichtbestimmten Aufwand als Steuerpflichtige, die nur einmal am Tag ihre regelmäßige Arbeitsstätte aufsuchen müssten. Dementsprechend sei auch früher in § 9 Abs. 1 Nr. 4 EStG geregelt gewesen, dass dann, wenn der Arbeitnehmer an einem Tag mehrmals zwischen Wohnung und Arbeitsstätte hin- und herfahre, die zusätzlichen Fahrten zu berücksichtigen seien, soweit sie durch einen zusätzlichen Arbeitseinsatz außerhalb der regelmäßigen Arbeitszeit oder durch eine Arbeitszeitunterbrechung von mindestens 4 Stunden veranlasst seien. Die Nichtgeltung dieses Satzes in den Streitjahren 2003 bis 2005 führe dazu, dass die Regelung des § 9 Abs. 1 Nr. 4 EStG i.V.m. § 9 Abs. 2 Satz 1 EStG gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG verstoße. Die Normen würden von dem nach dem Netto-Prinzip maßgeblichen Veranlassungsprinzip abweichen. Die Überwindung einer Distanz zwischen Wohnort und Arbeitsstätte sei regelmäßig notwendige berufliche Betätigung.
Zwar sei der Gesetzgeber berechtigt, im Interesse eines praktikablen Gesetzesvollzuges mit generalisierenden, typisierenden und pauschalierenden Regelungen die „typische“ private Mitveranlassung von Wegekosten bei der Bestimmung des abzugsfähigen Aufwands zu berücksichtigen. Die in den Streitjahren geltende Regelung hinsichtlich der Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte genüge indes den verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine typisierende Regelung nicht, da die Begrenzung der Entfernungspauschale auf eine Fahrt zwischen Wohnung und Arbeitsstätte und die Nichtberücksichtigung von mehrfachen Fahrten an einem Arbeitstag mit einer typisierenden Bewertung und Gewichtung beruflicher wie privater Veranlassungsmomente nichts zu tun habe. Sowohl die erste Fahrt zwischen Wohnung und Arbeitsstätte als auch die zweite Fahrt zwischen Wohnung und Arbeitsstätte seien beruflich veranlasst.
Ebenso wie sich nicht begründen lasse, warum Aufwendungen des Arbeitnehmers für Fahrten ab 21 km zwischen Wohnung und regelmäßiger Arbeitsstätte als Werbungskosten abgezogen werden könnten, während Aufwendungen des Arbeitnehmers für Fahren bis 21 km nicht abzugsfähig seien, lasse sich auch nicht begründen, warum Aufwendungen des Arbeitnehmers für eine Fahrt pro Arbeitstag zwischen Wohnung und regelmäßiger Arbeitsstätte als Werbungskosten abzugsfähig seien, während Aufwendungen des Arbeitnehmers für zwei Fahrten zwischen Wohnung und regelmäßiger Arbeitsstätte nicht abzugsfähig seien.
Bei dieser Differenzierung handele es sich um eine verfassungsrechtlich nicht hinreichend sachlich begründete, sondern allein fiskalisch motivierte und gestaltete, quantitativ abgegrenzte Herausnahme nur eines Teils einer bestimmten Aufwendungsart aus dem System differenzierender einkommensteuerlicher Belastungen des Einkommens nach Grundregeln des objektiven Nettoprinzips.
Die Kläger verweisen zur Begründung ihrer Klage insbesondere auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 09.12.2008, 2 BvL 1/07 u.a. (BFH/NV 2009, 338) und vertreten die Ansicht, ebenso wie § 9 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 EStG in der Fassung des Steueränderungsgesetzes 2007 vom 19.07.2006 die verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine folgerichtige Umsetzung einkommensteuerrechtlicher Belastungsentscheidungen nicht gerecht geworden sei, werde die Beschränkung des Werbungskostenabzugs auf eine Fahrt pro Arbeitstag den verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine folgerichtige Umsetzung einkommensteuerrechtlicher Belastungsentscheidungen nicht gerecht, da auch dies von dem nach dem Nettoprinzip maßgeblichen Veranlassungsprinzip abweiche. Wenn sich schon bei der Pendlerpauschale, die erst ab dem 21 km gewährt worden sei, im Rahmen gesetzgeberischer Typisierungsbefugnisse unter dem Aspekt gemischt veranlasster Aufwendungen keine verfassungsrechtlich hinreichenden Gründe für die Abweichung ergäben, ergäben sich für die Beschränkung auf eine Fahrt zwischen Wohnung und Arbeitsstätte pro Arbeitstag erst Recht keine verfassungsrechtlichen hinreichenden sachlichen Gründe für die Abweichung von dem nach dem Nettoprinzip maßgeblichen Veranlassungsprinzip. Während bei einer Fahrt zwischen Wohnung und Arbeitsstätte eine private Mitveranlassung gegeben sei, weil die Höhe der Wegekosten in erheblichen Maße auch durch individuelle Entscheidungen des Steuerpflichtigen beeinflusst seien, wozu die private Wahl des Wohnortes gehöre, fehle es bei der zweiten Fahrt an einer privaten Mitveranlassung, da die Entscheidung, ob der Arbeitnehmer die Arbeitsstelle einmal oder zweimal am Tag aufsuchen müsse, nicht seiner individuellen Entscheidungsfreiheit unterliege und somit nicht seiner privaten Wahl. Die zweite Fahrt sei also sogar im Gegensatz zur ersten Fahrt nicht privat mit veranlasst, sondern ausschließlich beruflich veranlasst.
Die Kläger beantragen sinngemäß, den Einkommensteuerbescheid für 2003 vom 29.04.2005, den Einkommensteuerbescheid für 2004 vom 23.06.2006 und den Einkommensteuerbescheid für 2005 vom 12.12.2008 jeweils in Gestalt der Einspruchsentscheidungen vom 20.11.2009 dahingehend zu ändern, dass in 2003 173 zweite Fahrten zur Arbeitsstätte, in 2004 156 zweite Fahrten zur Arbeitsstätte und in 2005 171 zweite Fahrten zur Arbeitsstätte an einem Arbeitstag bei den für die Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte anzusetzenden Werbungskosten berücksichtigt würden, hilfsweise, das Verfahren nach Art. 100 GG auszusetzen und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen, hilfsweise, die Revision zuzulassen.
Das Finanzamt beantragt, die Klage abzuweisen. Es vertritt die Ansicht, es sei lediglich eine arbeitstägliche Fahrt zwischen Wohnung und Arbeitsstätte anzuerkennen. Unter Bezugnahme auf seine Einspruchsentscheidungen verweist das Finanzamt auf den BFH-Beschluss vom 11.09.2003 VI B 101/03 (BStBl II 2003, 893) und die darin enthaltenen Feststellungen, dass die Abgeltungswirkung der Entfernungspauschale auch dann eingreife, wenn wegen atypischer Dienstzeiten Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte zweimal arbeitstäglich erfolgen müssten. Mit Beschluss vom 26.10.2005 2 BvR 2085/03 habe das Bundesverfassungsgericht die sich an den BFH-Beschluss anschließende Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
Aus den Gründen:
[17] 1. Die Klage ist unbegründet.
[18] a) Die Klage ist unbegründet, weil das Finanzamt in den angefochtenen Einkommensteuerbescheiden zu Recht jeweils nur für eine Fahrt pro Arbeitstag Aufwendungen für die Wege zwischen Wohnung und Arbeitsstätte in Höhe der jeweiligen Entfernungspauschalen berücksichtigt hat. Die darüber hinausgehende Berücksichtigung der Entfernungspauschalen für eine zweite arbeitstägliche Fahrt zwischen Wohnung und Arbeitsstätte wird weder durch die für die Streitjahre geltende gesetzliche Regelung zugelassen, noch ist sie verfassungsrechtlich geboten. Die jeweiligen gesetzlichen Regelungen hinsichtlich der Aufwendungen des Arbeitnehmers für die Wege zwischen Wohnung und Arbeitsstätte verstoßen in den Streitjahren nicht gegen das Grundgesetz.
[19] Gemäß § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 Sätze 1 und 2 EStG sind Werbungskosten auch Aufwendungen des Arbeitnehmers für die Wege zwischen Wohnung und Arbeitsstätte. Zur Abgeltung dieser Aufwendungen ist für jeden Arbeitstag, an dem der Arbeitnehmer die Arbeitsstätte aufsucht, eine Entfernungspauschale für jeden vollen Kilometer der Entfernung zwischen Wohnung und Arbeitsstätte in 2003 in Höhe von 0,36 EUR für die ersten zehn Kilometer und 0,40 EUR für jeden weiteren Kilometer anzusetzen. In den Streitjahren 2004 und 2005 gilt die inhaltsgleiche Regelung nur mit der Maßgabe, dass die Entfernungspauschale nur noch 0,30 EUR pro Kilometer beträgt. Nach § 9 Abs. 2 Satz 1 EStG sind durch die Entfernungspauschalen sämtliche Aufwendungen abgegolten, die durch die Wege zwischen Wohnung und Arbeitsstätte und durch die Familienheimfahrten veranlasst sind.
[20] Nach diesen gesetzlichen Regelungen ist für jeden Arbeitstag, an dem die Arbeitsstätte aufgesucht wird, der sich aus der Entfernung zur Wohnung ergebende Betrag anzusetzen, und zwar unabhängig davon, wie oft die Strecke je Arbeitstag zurückgelegt wird, welches Verkehrsmittel benutzt wird und welche Kosten tatsächlich angefallen sind. Dies ergibt sich aus Wortlaut und Entstehungsgeschichte. Der diesbezüglich in dem BFH-Beschluss vom 11.09.2003 VI B 101/03 (BStBl II 2003, 893) enthaltenen Ausführungen schließt sich das Gericht in vollem Umfang an.
[21] Es begegnet auch grundsätzlich auch keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, dass in die einmal pro Arbeitstag zu berücksichtigende Entfernungspauschale weitere Fahrten zwischen Wohnung und regelmäßiger Arbeitsstätte an einem Arbeitstag einbezogen sind. Zwar kommt es insoweit zu einer Ungleichbehandlung gegenüber Steuerpflichtigen, die trotz geringerer tatsächlicher Aufwendungen ebenfalls die volle Entfernungspauschale erhalten, und zu einer weiteren Ungleichbehandlung dadurch, dass grundsätzlich zweimal am Tag anfallende Fahrtaufwendungen nicht doppelt berücksichtigt werden können. Diese Durchbrechung des objektiven Nettoprinzips durch die lediglich einmalige Berücksichtigung einer Entfernungspauschale pro Tag verstößt jedoch nicht gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz weil insoweit der Gesetzgeber den ihm zur Verfügung stehenden Typisierungsspielraum nicht verletzt hat. Mehrfachfahrten, insbesondere Fahrten, die aufgrund von zeitlich weit auseinander liegenden Zeiten am selben Tag notwendig werden, stellen atypische Sachverhalte dar, die im Verhältnis zu der Mehrzahl der Steuerpflichtigen die Ausnahme sind. Die gleichwohl auch für solche Sachverhalte vorgenommene typisierende Regelung mit der Abzugsfähigkeit einer arbeitstäglichen Fahrt zwischen Wohnung und Arbeitsstätte dient darüber hinaus auch einer wesentlichen Vereinfachung des Verfahrens, weil aufgrund der bis zum Veranlagungszeitraum 2000 geltenden Rechtslage häufig eine zeitintensive und aufwendige Prüfung dieser auch besonders streitanfälligen Sondersachverhalte nicht mehr erforderlich ist (vgl. dazu auch die Ausführungen in dem Urteil des Finanzgerichts Münster vom 20.10.2005 8 K 3444/02 E, Entscheidungen der Finanzgerichte 2006, 333).
[22] Entgegen der Ansicht der Kläger folgt auch dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 09.12.2008 2 BvL 1/07 (a.a.O.) nichts anderes, weil sich die hier streitige Regelung des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 Satz 2 EStG im Gegensatz zu der in dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts streitigen kilometermäßigen Beschränkung der Entfernungspauschale durchaus als das Ergebnis eines verfassungsrechtlich zulässigen Typisierungsvorgangs darstellt. Wie bereits im vorherigen Absatz dargestellt, geht es bei der Berücksichtigung lediglich einer arbeitstäglichen Fahrt zwischen Wohnung und Arbeitsstätte darum, die berufliche Veranlassung der Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstelle in einem Gesamtbild zu erfassen. Anders als die der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zugrundeliegenden Regelung, die dazu führte, dass Aufwendungen für die Wege zwischen Wohnung und Arbeitsstätte erst ab dem 21. Kilometer berücksichtigt wurden, werden nach der für die Veranlagungszeiträume 2003 bis 2005 geltenden Regelung des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 Satz 2 EStG i.V.m. § 9 Abs. 2 EStG nicht ausnahmslos bei allen Arbeitnehmern anfallende Aufwendungen im Wege der Typisierung (bzw. Kürzung) von dem Werbungskostenabzug ausgenommen. Vielmehr war es dem Gesetzgeber ein Anliegen, die arbeitstäglich anfallenden Aufwendungen als Werbungskosten grundsätzlich zu berücksichtigen, aber eben im Wege einer Typisierung. Insofern kann auch auf die im vorherigen Absatz aufgezeigten Hintergründe der Regelung insbesondere auch im Hinblick auf die bis zum Jahre 2000 geltende Rechtslage verwiesen werden.
[23] b) Soweit die Kläger beantragen, das Verfahren nach Art. 100 GG auszusetzen und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen, kann dem nicht gefolgt werden, weil nach Art. 100 Abs. 1 GG die Aussetzung des Verfahrens und die Einholung einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts voraussetzt, dass das entscheidende Gericht das jeweilige Gesetz für verfassungswidrig hält. Dies ist nicht der Fall.
[24] c) Die Revision war nicht zuzulassen, weil keiner der Revisionszulassungsgründe im Sinne des § 115 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) gegeben ist.
[25] Vielmehr folgt das Gericht mit seiner Entscheidung der Auffassung des BFH und anderer Finanzgerichte. Insoweit kann auf den Beschluss des BFH vom 11.09.2003 VI B 101/03 (BStBl II 2003, 893), das Urteil des Finanzgerichts des Landes Sachsen-Anhalt vom 10.12.2003 (EFG 2004, 717) und das Urteil des Finanzgerichts Münster vom 20.10.2005 (EFG 2006, 333) verwiesen werden.