EuGH: Klage gegen Verbraucher mit unbekanntem Wohnsitz vor Gerichten des letzten bekannten Wohnsitzes möglich
- Urteil des EuGH vom 17.11.2011 - C-327/10 -
Ist der aktuelle Wohnsitz eines Verbrauchers im Gebiet der Europäischen Union unbekannt, sind für eine Klage gegen ihn die Gerichte in dem Mitgliedstaat des letzten bekannten Wohnsitzes international zuständig, sofern keine beweiskräftigen Indizien auf einen Wohnsitz außerhalb der EU schließen lassen. Dies hat der Europäische Gerichtshof mit Urteil vom 17.11.2011 in Auslegung der Brüssel-I-Verordnung 44/2001/EG entschieden. Die Unmöglichkeit, den aktuellen Wohnsitz des Beklagten zu ermitteln, dürfe dem Kläger nicht das Recht auf ein gerichtliches Verfahren nehmen.
Gerichtsverfahren gegen Verbraucher mit unbekanntem Aufenthalt europarechtskonform?
Eine tschechische Bank gewährte einem deutschen Staatsangehörigen ein Hypothekendarlehen. Zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses hatte dieser seinen Wohnsitz in Mariánské Láznĕ (Tschechische Republik). Der Vertrag verpflichtete ihn, der Bank jede Wohnsitzänderung mitzuteilen. Für Rechtsstreitigkeiten sollte das ordentliche Gericht am Sitz der Bank zuständig sein. Wegen Zahlungsrückständen aus dem Darlehen verklagte die Bank den Darlehensnehmer vor dem Okresní soud v Chebu in der Tschechischen Republik. Dieses Gericht stellte fest, dass sich der Beklagte nicht mehr unter der im Vertrag angegebenen Adresse aufhielt. Es konnte auch keinen anderen Wohnsitz des Beklagten in der Tschechischen Republik ermitteln. Deshalb bestellte es gemäß der tschechischen Zivilprozessordnung einen Prozesspfleger für den Beklagten, der als Person unbekannten Aufenthalts betrachtet wurde. Da es Zweifel hatte, ob eine nationale Vorschrift, die Verfahren gegen Personen mit unbekanntem Aufenthalt ermöglicht, mit der Verordnung über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (VO 44/2001/EG) vereinbar ist, rief es den EuGH im Vorabentscheidungsverfahren an.
EuGH: Gericht des letzten bekannten Wohnsitzes eines Verbrauchers zuständig
Der EuGH hat entschieden, dass die Gerichte des letzten bekannten Wohnsitzes des Verbrauchers international zuständig sein können, wenn dessen aktueller Wohnsitz unbekannt ist. Die Verordnung regle diesen Fall nicht ausdrücklich. Nach Art. 16 Abs. 2 VO 44/2001/EG seien für Klagen des anderen Vertragspartners gegen den Verbraucher die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dessen Hoheitsgebiet der Verbraucher seinen Wohnsitz habe. Könne das nationale Gericht keinen Wohnsitz des Verbrauchers im Inland feststellen, müsse es prüfen, ob er seinen Wohnsitz in einem anderen EU-Mitgliedstaat habe. Für den Fall, dass aber auch diese Prüfung negativ verläuft und es für das Gericht auch keine beweiskräftigen Indizien gibt, die auf einen Wohnsitz außerhalb der EU schließen lassen, legt der EuGH Art. 16 Abs. 2 VO 44/2001/EG nun dahin aus, dass der Grundsatz der Zuständigkeit der Gerichte des Mitgliedstaats, in dem sich der Wohnsitz des Verbrauchers befindet, auch für seinen letzten bekannten Wohnsitz gilt.
Auslegung verhindert Rechtsschutzverweigerung
Der EuGH begründet diese Auslegung mit einem besseren Rechtsschutz für die Parteien. Der Kläger könne ohne Schwierigkeiten feststellen, welches Gericht er anrufen könne. Der Beklagte könne vorhersehen, vor welchem Gericht er verklagt werden könne. Außerdem werde so vermieden, dass die Bestimmung eines zuständigen Gerichts verhindert und dem Kläger damit sein Recht auf ein gerichtliches Verfahren genommen werde. Ferner gewährleiste diese Lösung ein angemessenes Gleichgewicht zwischen den Rechten des Klägers und denen des Beklagten, wenn dieser wie hier vertraglich verpflichtet war, dem Kläger jede Adressänderung nach der Unterzeichnung des langfristigen Hypothekendarlehensvertrags mitzuteilen.
Verfahrensfortsetzung mit Prozesspfleger zulässig
Weiter hat der EuGH entschieden, dass das Verfahren ohne Wissen des Beklagten mittels eines Prozesspflegers, dem die Klage zugestellt wird, fortgesetzt werden darf. Voraussetzung sei allerdings die Vergewisserung, dass alles Erforderliche getan wurde, um diese Person ausfindig zu machen. Zwar würden die Verteidigungsrechte des Beklagten beeinträchtigt. Eine solche Beeinträchtigung sei jedoch im Hinblick auf das Recht des Klägers auf einen effektiven Rechtsschutz gerechtfertigt. Denn ohne Bestellung eines Prozesspflegers, dem die Klage zugestellt werden könne, könnte der Kläger dieses Recht gegenüber einer Person ohne bekannten Wohnsitz nicht ausüben.